Peter Godzik

 

Außerhalb nur leeres Geschwätz

Luthers Magnifikatauslegung von 1521

 

Die Maria des Magnifikat (Lukas 1,46-55) wird heutzutage gern als „Erfahrungstheologin“ bezeichnet, weil sie nicht über allgemeine Wahrheiten, sondern von ihrer eigenen Erfahrung spricht. Solche moderne, feministische Einschätzung steht in der Auslegungstradition Luthers, der gleich zu Beginn seiner Magnifikatauslegung von 1521 hervorhebt: „Um diesen Lobgesang ordentlich zu verstehen, ist darauf zu merken, dass die  hochgelobte Jungfrau  Maria aus eigener Erfahrung redet, darin sie durch den heiligen Geist erleuchtet und gelehrt worden ist.“ Es klingt sehr modern, wenn Luther solchen selbst erfahrenen Glauben dem allgemeinen Gerede der (männlichen) Theologen gegenüberstellt, die ohne eigene Erfahrung über den Glauben nur reden und spekulieren: „Ihrer sind viele, die Gott mit lauter Stimme preisen, mit kostbaren Worten predigen, viel von ihm reden, disputieren, schreiben und malen, viele, die sich über ihn Gedanken machen und durch die Vernunft nach ihm trachten und spekulieren, dazu viele, die ihn mit falscher Andacht und Willen erheben.“

Dabei ist Luther gerade in der Magnifikatauslegung eines vor allem deutlich geworden: „Es kann niemand Gott noch Gottes Wort recht verstehen, er habs denn unmittelbar von dem heiligen Geist. Niemand kanns aber von dem heiligen Geist haben, er erfahre es, versuchs und empfinde es denn. Und in dieser Erfahrung lehret der heilige Geist als in seiner eigenen Schule, außerhalb derer nichts gelehrt wird als nur leere Worte und Geschwätz.“

Ich möchte im folgenden versuchen, dem Erfahrungsbegriff bei Luther ein wenig nachzugehen, um zu verstehen, was dabei für ihn wichtig ist. Luther legt großen Wert darauf, daß jeder Mensch bei sich selbst, in seiner eigenen Lebenserfahrung nach den Spuren Gottes Ausschau hält: „Ein jeglicher soll darauf achten, was Gott mit ihm wirkt, vor allen Werken, die er mit anderen tut. Denn es wird keines Seligkeit darinnen stehen, was er mit einem anderen, sondern was er mit dir wirkt.“

Die Einübung in den christlichen Glauben geschieht meist so, daß wir als Kinder Geschichten hören von den großen Taten Gottes, die dieser zu verschiedenen Zeiten vollbracht hat. Soll das Vertrauen in diese Geschichten nicht Schaden nehmen durch allerlei Vernunft- und Existenzzweifel beim Heranwachsenden, kommt es sehr darauf an, daß wir irgendwann in unserem Leben begreifen, wie sehr wir selbst mit all dem gemeint sind, was das erzählt wird.

Ich erinnere mich noch gut an einen bestimmten Kindergottesdienst, als ich ein Bild von der Taufe Jesu in das Goldene Buch unserer Gemeinde malen sollte. Das darüber gesetzte Bibelwort „Du bist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“ (Markus 1,11 par.) habe ich damals ganz naiv auch auf mich bezogen und von da an immer wieder nach Möglichkeiten der Identifizierung gesucht. „Du bist der Mann“ (2. Samuel 12,7) - das bezog sich in der Folgezeit auf viele biblische Geschichten, mit deren Hilfe ich lernte, meine eigene Lebensgeschichte in einer bestimmten Weise vor Gott zu deuten.

 

Jakob am Jabbok

 

Im Jakobskampf am Jabbok (1. Mose 32,23-33) z. B. erkannte ich die eigene Geschichte der Auseinandersetzung mit meinem Vater und den Kampf um seinen Segen für meinen eigenen Lebensweg wieder. Ich war Jakob und Joseph, Josua und David, Petrus und Johannes, auch Judas und manch andere dunkle Gestalt der Bibel. Es dauerte eine Zeit, bis ich die Frauengestalten der Bibel näher an mich heranlassen konnte und in einigen von ihnen z.B. das mütterliche Erbe Jesu oder auch mein eigenes entdeckte. Am aufregendsten war es, wenn wir später in Gruppen versuchten, uns der Christus-Gestalt so zu nähern, daß auch eigene Anteile dabei sichtbar wurden. Niemand von uns konnte einfach so sein wie er, aber wenn wir als Frauen und Männer uns darum bemühten, miteinander die Beziehungen in einer Geschichte zu gestalten, dann konnte es geschehen, daß etwas von der Christus-Wirklichkeit auch unter uns als seiner Gemeinde erfahrbar wurde.

Für Luther ist es „fürwahr das Größte im Himmel und auf Erden, daß man Gott recht erkenne“. „Wie kann man ihn aber besser erkennen als aus seinen eigenen Werken? Wer sein Werk recht erkennet, der kann in der Erkenntnis seiner Natur, seines Willens, seines Herzens und Mutes nicht fehlgehen.“

Es ist der Heilige Geist, der die heilige Jungfrau Maria lehrt, „daß Gott ein solcher Herr sei, der nichts anderes zu schaffen habe, als nur zu erhöhen, was niedrig ist, zu erniedrigen, was da hoch ist, und kurz: zu zerbrechen, was da gemacht ist, und ganz zu machen, was zerbrochen ist.“ Es entspricht aber auch ihrer eigenen Erfahrung - dem, was Gott an ihr getan hat -, so von Gott zu reden. Und so ist sie in der Lage, uns die Werke, Art, Natur und den Willen Gottes so zu lehren, daß wir sie recht erkennen:

„Sechs göttliche Werke in sechserlei Menschen zählt sie ... nacheinander auf, und teilt die Welt in zwei Teile, auf jeglicher Seite drei Werke und dreierlei Menschen, und ist ein Teil immer gegen den andern. Da zeiget sie, was Gott auf beiden Seiten tut, malet ihn so ab, daß er nicht besser abgemalet werden könnte. Und diese Teilung ist gut und ordnungsgemäß gefaßt und an mehreren Orten der Schrift gegründet ...“

Die sechs Werke Gottes an allen Menschen sind diese:

- Gott ist barmherzig über die Furchtsamen;

- Gott zerstreut die Hochmütigen;

- Gott stößt die Gewaltigen vom Thron;

- Gott erhebt die Niedrigen;

- Gott füllt die Hungrigen mit Gütern;

- Gott läßt die Reichen leer.

„Nach den Gotteswerken an ihr und allen Menschen kommt Maria wieder auf den Anfang und das Erste und beschließt das Magnifikat mit dem allergrößten Werk aller Werke Gottes, das ist die Menschwerdung des Gottessohnes.“

Luthers lobendes Urteil über Marias „Gottesbild“ liest sich wie eine Beschreibung seiner eigenen Bemühungen um die Auslegung der Heiligen Schrift: „Sie malet Gott so ab, daß er nicht besser abgemalet werden könnte“; alles „ist gut und ordnungsgemäß gefaßt und an mehreren Orten der Schrift gegründet“.

Luther läßt in seinen Auslegungen die Schrift selbst zu Wort kommen. Er legt die besserwisserische Haltung mancher Theologen ab, die die Schrift meistern wollen, weil er an sich selbst erfahren hat, wie befreiend die Schrift wirkt, wie sie tröstet und heilt, wenn man sie nur selbst zur Sprache kommen läßt. Die Schrift leuchtet von sich aus, ist aus sich selbst heraus verständlich und klar. Es kommt vor allem darauf an, den Schatten des Eigensinns, der auf sie fällt und sie verdunkelt, zurückzunehmen. Am Ende seiner Magnifikatauslegung sagt Luther: „Hier lassen wirs für diesmal bleiben und bitten Gott um rechtes Verständnis dieses Magnifikat, das da nicht allein leuchte und rede, sondern brenne und lebe in Leib und Seele.“

Das Verstehen der biblischen Texte ist daran gebunden, daß wir als Menschen aufgrund unserer eigenen Lebenserfahrung begreifen, daß hier unsere Sache verhandelt wird. Die Schrift versetzt uns zwar außerhalb unserer selbst, aber so, daß wir zu unserem wahren Sein finden, daß immer schon in den biblischen Texten aufgehoben ist. Wir, die wir von Gott getrennt waren, werden wieder in das rechte Gottesverhältnis gesetzt. Luther schreibt über Marias lobpreisendes Bekenntnis „Er hat große Dinge an mir getan“: „Darum sind diese wenigen Worte des Geistes allezeit so groß und tief, daß niemand sie verstehen kann, als wer auch denselben Geist wenigstens zu einem Teil fühlet. Den Geistlosen aber, welche ihre Dinge mit viel Worten und großem Geschrei ausrichten, sind solche Worte ganz gering anzusehen und ganz ohne Saft und Geschmack.“

Von daher ist es sinnvoll, bestimmte Worte der Heiligen Schrift immer wieder zu sagen und zu hören, wie es z. B. im „bible sharing“ geschieht, damit die Worte ihre heilsame, tröstliche und zurechtbringende Wirkung in uns entfalten können, ehe wir uns mit allerlei Verstandes- und Vernunftgründen von ihnen distanzieren. Es ist wichtig, daß wir wieder zu Hörern des Wortes werden, dass wir es „wiederkäuen“ und so als Nahrung in uns aufnehmen. Es ist aber nicht nur die Vernunft allein, die sich einem heilsamen Verstehen der Heiligen Schrift in den Weg stellt. Oft sind es auch Verzweiflung, Ratlosigkeit, Trauer und Unglaube, die unsere Augen so halten, daß wir Gott nicht sehen können: „Es ist der leidige Unglaube allezeit im Wege, daß Gott solche Werke nicht in uns wirken kann und wir sie nicht erfahren noch erkennen können.“

Für Luther hängt das mit der Kurzsichtigkeit und der Ungeduld der Menschen zusammen, daß wir uns nicht dem öffnen können, was doch zu unserem Heil geschieht: „Darin widerstrebt ihm leider doch die Welt mit ihren fehlsichtigen Augen ohne Unterlaß und hindert ihn an seinem Sehen, Wirken, Helfen, Erkenntnis, Lieb und Lob, und beraubt ihn aller solcher Ehre, dazu sich selbst ihrer Freude, Lust und Seligkeit.“ „Es gebricht nur am Glauben, daß wir nicht auch so ein wenig der Zeit warten könnten, sonst würden wir auch fein sehen, wie die Barmherzigkeit bei den Furchtsamen mit aller Stärke Gottes ist und der Arm Gottes wider die Hoffärtigen mit allem Ernst und Gewalt.“

Rechte Schriftauslegung und rechtes Verständnis der Schrift setzen voraus, daß ich bereit bin, mich von den Bibelworten verwandeln zu lassen zu einer neuen Sichtweise der Welt und meiner eigenen Existenz, die korrigiert und geschärft ist an der schöpferischen Sehweise Gottes. Vom Geist geleitete Schriftauslegung vertraut sich dem Glauben an und hält Dinge für möglich, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen läßt. Luther faßt seine Ausführungen über den Geist in seiner Magnifikat­auslegung so zusammen: „Was der Geist sei, ist jetzt gesagt: nämlich der die unbegreiflichen Dinge durch den Glauben erfaßt.“

Die wichtigste Einsicht im Zusammenhang mit der Gottesliebe ist die, dass Gott uns zuerst geliebt hat, ehe wir überhaupt etwas wahrnehmen, es empfangen und darauf antworten konnten (Jesaja 55,8-11).

Gottes Liebe zu uns wird darin sichtbar, daß  er uns als  sein Gegenüber geschaffen hat, daß er uns trotz aller Abwehr- und Abkehrversuche immer wieder sucht und mit hingebungsvoller und aufopferungswilliger Liebe nachgeht, die nicht das Ihre sucht, sondern ganz den Geliebten meint und heimbringen will. Luther verbindet diese liebevolle Haltung Gottes uns gegenüber mit seinen Augen, mit der Art und Weise seines Ansehens. Was Gott uns gibt an Gütern mit austeilenden Händen, ist nur die Folge seiner anschauenden Liebe: „In den Gütern gibt Gott das Seine, im Ansehen und in der Gnade gibt er sich selbst; in den Gütern empfängt man seine Hand, aber in der Gnade Ansehen empfängt man sein Herz, Geist, Mut und Willen.“

Wenn ich einer solchen anschauenden Liebe ansichtig werde im Empfangen von Wort und Sakrament und vor allem im Empfangen des Segens („der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir“), dann löst das eine Gegenbewegung in mir aus: Ich erhebe mein Herz zu dem, der mich auf diese Weise liebt, ich öffne meine Augen und Sinne, sehe und schmecke, wie freundlich der Herr ist.

Lieben heißt den anderen groß machen, viel von ihm halten, in der Erwiderung anschaulicher Liebe Freude und Lust empfinden. Augustinus hat das „Gott genießen“ genannt, eine Haltung, die heute beinahe verlorengegangen zu sein scheint angesichts der Herausforderung zu immer neuen „guten Taten“. Aber so, wie wir nicht gleich auf Gottes Güter schauen sollen, sondern vor allem auf seine Güte, so sollen wir auch nicht zuerst auf unsere Werke sehen, sondern auf unser Geliebtsein und es vor Gott genießen, ehe wir uns daran machen, Gott nicht nur mit unserer Verehrung zu lieben, sondern auch mit unseren Taten zu loben.

Es ist allerdings wichtig für uns, dass wir Gott lieben und loben und dabei nicht uns selbst und unseren Nutzen dabei suchen.

Eine solche Gottesliebe hatte Maria, ob sie nun niedrig und nichts war oder in den höchsten Gütern schwebte: „Mit fröhlichem, springendem Geist rühmet sie sich und lobet Gott, er habe sie angesehen, obwohl sie niedrig und nichts gewesen sei.“

Eine solche Gottesliebe hatte aber vor allem Christus: Er wurde von Gott selbst in die Tiefe alles Jammers geworfen und war darin vortrefflich erfahren, „wohin Gottes Sehen, Werk, Hilfe, Art, Rat und Willen gerichtet sei“. Trotzdem bleibt er „voller Bekenntnis, Lieb und Lob Gottes ewiglich, wie der Psalm 21,7 sagt: Du erfreust ihn mit Freude vor deinem Angesicht.“ Gott lieben heißt ihn gegen allen äußeren Anschein um seiner selbst willen lieben und offen sein für alles, was er aus Liebe schenkt.

Unsere Erfahrung in der Begegnung mit Gott erhält hier eine wichtige Orientierung, die bedeutsam ist für das Erleben jeder Liebe: Es kommt nicht darauf an, daß wir immer ein handgreifliches Ergebnis vor Augen haben, uns also auf äußerliche Wirkungen und Beweise verlassen können, sondern daß wir ein unbedingtes Zutrauen gewinnen zu der uns versprochenen und verheißenden Güte. Wer so vertrauen und lieben kann, macht zuallererst die Erfahrung, welche verändernde Kraft die Liebe hat. Sie verwandelt die Welt, sie läßt mich anders erleben, „sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“ (1. Korinther 13,7).

Das Gotteslob des Magnifikat ist vor allem ein Lobgesang über die großen Taten Gottes. Es erhebt sich aus der Tiefe schmerzlicher Erfahrung, wenn ich bereit bin, all meine selbstgemachten Sicherheiten fahren zu lassen und mich ganz Gott anzuvertrauen, meine Sorge auf ihn zu werfen und die Erfahrung zu machen, was für ein schöpferischer Gott er ist, der das Leben will und aus der Tiefe erhebt. Zur Erfahrung tritt also der Glaube hinzu, der bereit ist, von Gott alle Lösung zu erwarten, der empfänglich ist für das schöpferische Handeln Gottes und sich beschenken läßt mit Leben und Trost.

Luther schreibt: „Nur der Glaube macht fromm, gerecht und selig, das ist die gute Zuversicht in die uns versprochene unsichtbare Gnade Gottes.“ Gotteslob bringt solche Erfahrung der unsichtbaren Gnade Gottes zur Sprache, erhebt Gott zum Jubel vor allen Menschen, vertraut ihm in allen Dingen. Das kann man nicht selber machen. Es ist ein Geschenk durchlittener und bestandener Erfahrung, die Gott alles Heil und alles Gute zutraut. Luther: „Es ist kein Menschenwerk, Gott mit Freuden loben. Es ist vielmehr ein fröhliches Leiden und allein ein Gotteswerk, das sich nicht mit Worten lehren, sondern nur durch eigene Erfahrung kennenlernen läßt.“

Das Herausstellen der eigenen Erfahrung kann einem aber auch in doppelter Hinsicht einen Streich spielen, nämlich wenn ich Gott nur dann loben kann, wenn er mir wohltut und wenn ich mich mit Gottes Gütern über andere erhebe.

In beiden Fällen wird Gottes Freiheit und Ehre verletzt, und ich bin daran gehindert, Gott in rechter Weise zu loben. Luther nennt Menschen, die sich so verhalten, „zweierlei falsche Geister, die das Magnifikat nicht recht singen können“:

 

Rechtes Gotteslob

 

„Die ersten, die Gott nicht eher loben, er tue ihnen denn wohl, scheinen Gott sehr zu loben. Aber dieweil sie niemals Unterdrückung und die Tiefe leiden wollen, können sie niemals die rechten Werke Gottes erfahren und deshalb auch nimmermehr Gott recht lieben noch loben ... Wo es aber schlecht geht, ist das Singen aus, da hält man nichts mehr von Gott.“

„Die anderen sind noch gefährlicher, die auf die andere Seite weichen, die sich mit Gottes Gütern erheben und dieselben nicht der reinen Güte Gottes zueignen. Sie wollen auch was dran haben, wollen deswegen geehrt und in Ansehen vor anderen Menschen gehalten sein, schauen ihr großes Gut an, das Gott mit ihnen gewirkt, klammern sich daran und nehmen sich seiner an als des ihren und halten sich den anderen gegenüber, die solches nicht haben, für etwas Besonderes.“ Rechtes Gotteslob wartet also nicht darauf, mit Gütern beschenkt zu werden, und erhebt sich nicht, wenn Güter sich einstellen. Rechtes Gotteslob sucht Trost, Freude und Zuversicht allein in Gott und läßt sich an seiner Gnade genügen.

Das Gotteslob hat aber nicht nur eine hymnische, lobpreisende Seite, dass wir etwas vorgesungen bekommen aus tief erfahrener Freude und nun eingeladen werden, es unsererseits nachzusingen aus dem, was wir selbst erlebt haben. Gotteslob meint auch eine Frömmigkeit, die frei ist zu „humaner Aktivität“.

Luther widmet seine Magnifikatauslegung dem achtzehnjährigen Herzog Johann Friedrich von Sachsen, der 1532 die Regierung im Kurfürstentum Sachsen übernehmen und für die Sache der Reformation von großer Bedeutung werden sollte. Luther dankt mit dieser Widmung dem Herzog nicht nur dafür, daß er sich für ihn und seine Sache 1520/21 eingesetzt hatte, sondern lässt sie ihm auch darum zuteil werden, weil er der Meinung ist, daß die Frömmigkeit eine das ganze, also auch das politische Leben bestimmende Grundhaltung ist, die nicht auf Innerlichkeit eingeschränkt werden darf. Auch ein Herzog oder Fürst bedarf der Frömmigkeit: „Denn das ist sehr nötig, weil an der Person eines solchen großen Fürsten vieler Leute Heil liegt, wenn er seinem Eigenwillen entzogen und von Gott gnädig regiert wird, wiederum vieler Verderben, wenn er sich selbst überlassen und ungnädig regiert wird.“

Das Gotteslob eines Regierenden besteht darin, Machtbefugnisse so zu gebrauchen, daß darin Gottes schöpferisches, rettendes und bewahrendes Handeln zum Zuge kommen kann. „Aber daß sie diese übel und gegen Gott brauchen, um den Frommen Unrecht und Gewalt zu tun, und daß sie ein Wohlgefallen daran haben, sich deswegen erheben, sie nicht mit Furcht Gottes zu seinem Lob und zum Schutz der Gerechtigkeit brauchen, das leidet er nicht lange...“

Aber nicht nur die Regierenden werden ermahnt, Gott die Ehre zugeben und sorgfältig zu sein. Auch alle anderen Menschen sollen sich in ihrem Verhalten auf Gott besinnen und ihn loben durch die Bewahrung des Rechts. Es ist ein Zeichen von Unglaube und selbstsüchtiger Sorge, wenn wir Unrecht dahingehen lassen und uns feige zurückziehen: „Der Unglaube macht, daß wir Gottes Wort, die Wahrheit, das Recht unterliegen sehen, das Unrecht obliegen, und schweigen still, strafen nicht, reden nicht deswegen, wehren nicht, lassen gehen, was da gehet. Warum? Wir haben Sorge, man greife uns auch an und mache uns arm, daß wir dann Hungers sterben und ewig erniedrigt werden. Das heißt dann, zeitlich Gut höher als Gott geachtet und an seiner Stelle zum Abgott gemacht.“

Gotteslob singt nicht nur von den großen Taten Gottes, sondern findet selber den Mut, etwas Tapferes zu tun: für die Wahrheit, für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten.

Gott erfahren, Gott erkennen, Gott lieben und Gott loben - das können wir als Menschen nur, wenn wir lernen, die Welt, in der wir leben, aus einem bestimmten Blickwinkel heraus zu betrachten. Diese Sehweise des Glaubens ist nicht selbstverständlich. Sie wird uns geschenkt, wenn wir Zutrauen haben zu der Liebe Gottes, wenn wir versuchen, die Art und Weise, wie Gott auf die Menschen und auf die Welt sieht, zu verstehen und uns darum bemühen, diese Sehweise zu unserer eigenen zu machen - zuerst so, daß wir sie gegen uns selbst gelten lassen, uns also als von Gott geliebte Menschen betrachten, und dann so, daß wir diese Sehweise auch auf andere Menschen, ja auf die ganze Kreatur übertragen und sie mit Gottes liebevollen Augen zu sehen lernen:

„Du mußt dir Gottes Willen über dich ohne alles Wanken, ohne alles Zweifeln vor Augen stellen, so daß du fest glaubest, er werde und wolle auch mit dir große Dinge tun. Dieser Glaube lebt und webt, der dringt durch und ändert den ganzen Menschen ...“

Der Glaube kommt in die Erfahrung Gottes - das ist der Schlüsselsatz für das Verständnis der Erfahrung bei Martin Luther. Und so muß die Rede vom erfahrenen Glauben ergänzt werden durch den Hinweis auf das, was aller Erfahrung vorausgeht, sie ermöglicht und qualifiziert: die Liebe des Schöpfers, die uns eingestiftet ist, so daß wir vertrauen und glauben können, es geschehe uns zugute, was uns geschieht, es begegne uns in allem Gott mit seiner Güte und seiner zurechtbringenden Liebe, auch wenn sie manchmal unter dem Gegenteil verborgen ist.

Wer so glauben kann, der mag sich verlassen auf seine eigene Erfahrung, der mag dem vertrauen, was er selbst erlebt hat. Der wird sein eigenes Leben immer wieder mit den Geschichten der Bibel in Verbindung bringen und wissen, wie sehr er selbst mit all dem gemeint ist, was da erzählt wird. Der wird hören auf die Verkündigung der Kirche, aber dabei immer auch auf sein eigenes Leben und seine eigene Erfahrung achten. Wie Luther gesagt hat: „Ein jeglicher soll darauf acht haben, was Gott mit ihm wirkt, vor allen Werken, die er mit anderen tut. Denn es wird keines Seligkeit darinnen stehen, was er mit einem anderen, sondern was er mit dir wirkt.“