603. GEDANKEN ÜBER DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS Jesus sagt: «Ich hätte rechtzeitig eingreifen können, um den Tod des Lazarus zu verhindern. Aber ich wollte es nicht. Ich wußte, daß diese Auferweckung ein zweischneidiges Schwert sein würde; daß die rechtschaffenen Juden sich bekehren und die Böswilligen noch verstockter werden würden; daß letztere mich wegen dieses endgültigen Beweises meiner Macht zum Tod verurteilen würden. Aber dazu war ich gekommen, und die Zeit war reif, daß sich alles erfüllte. Ich hätte auch sofort nach dem Tod kommen können. Doch ich wollte mit der Auferweckung eines schon weitgehend verwesten Leichnams auch die hartnäckigsten Ungläubigen überzeugen. Schließlich brauchten auch meine Apostel, die dazu bestimmt waren, meinen Glauben in die Welt zu tragen, einen Glauben, der durch Wunder dieser Größenordnung gefestigt war. In den Aposteln war
so viel Menschliches, wie ich schon gesagt habe. Es war dies
kein unüberwindliches Hindernis, sondern eine logische
Folge ihrer Berufung im reifen Mannesalter. Man kann einen Charakter, eine Mentalität
nicht von heute auf morgen ändern. Andererseits wollte
ich in meiner Weisheit nicht Kinder erwählen und erziehen und sie in meinem Geist
aufwachsen lassen, um dann aus ihnen meine Apostel zu machen. Ich hätte es tun können. Ich wollte es
nicht tun, denn dann hätte man mir vorgeworfen, jene zu verachten, die nicht
unschuldig sind, und hätte als Vorwand und Entschuldigung gebraucht,
daß ich selbst durch meine Wahl zu erkennen gegeben habe, daß ein
Erwachsener nicht mehr zu ändern ist. Es gibt zwei Arten, ein Wunder zu verlangen. In einem Fall gewährt es Gott mit Liebe, im anderen kehrt er unwillig den Rücken. Im ersten Fall bittet man, wie ich zu bitten gelehrt habe, unermüdlich und vertrauensvoll. Man wird nie zugeben, daß Gott einen nicht erhören könnte, da Gott gut ist und die Guten erhört, denn Gott ist mächtig und vermag alles. Dies ist Liebe und Gott gewährt dem alles, der liebt. Der andere Fall ist die Anmaßung der Rebellen, die fordern, daß Gott ihnen dient, sich zu ihren Bosheiten herabläßt und ihnen gibt, was sie selbst ihm verweigern: Liebe und Gehorsam. Diese Art ist eine Beleidigung, die Gott mit dem Entzug seiner Gnade bestraft. Ihr beklagt euch, daß ich keine Massenwunder mehr wirke. Wie könnte ich sie wirken? Wo sind die Massen, die an mich glauben? Wo die wahren Gläubigen? Wie viele wahre Gläubige gibt es in einer Menschenmenge? Wie einige überlebende Blumen in einem vom Feuer zerstörten Wald, sehe ich ab und zu eine gläubige Seele. Alle anderen hat Satan mit seinen Lehren verbrannt. Und immer mehr wird er verbrennen. Ich bitte euch, als übernatürlichen Leitsatz meine Antwort an Thomas zu betrachten. Man kann nicht mein wahrer Jünger sein, wenn man dem menschlichen Leben nicht den Wert beimißt, den es verdient; es ist kein Endzweck in sich selbst, sondern ein Mittel, um das wahre Leben zu erwerben. Wer sein Leben in dieser Welt retten will, wird das ewige Leben verlieren. Ich habe dies bereits gesagt, und ich wiederhole es. Was sind Prüfungen? Wolken, die vorüberziehen. Der Himmel bleibt und erwartet euch nach der Prüfung. Ich habe durch meinen Heroismus für euch den Himmel erobert. Ihr müßt mich nachahmen. Der Heroismus ist nicht nur jenen vorbehalten, die ein Martyrium erleiden müssen. Das christliche Leben ist fortwährender Heroismus, denn es ist ein ständiger Kampf gegen die Welt, den Dämon und das Fleisch. Ich zwinge euch nicht, mir zu folgen. Ich lasse euch die Freiheit. Aber Scheinheilige will ich nicht. Entweder mit mir und wie ich oder gegen mich. Ihr könnt mich nicht betrügen. Ja, mich könnt ihr nicht betrügen. Und ich beteilige mich nicht an den Bündnissen mit dem Feind. Wenn ihr ihn mir vorzieht, dann dürft ihr nicht glauben, daß ihr mich gleichzeitig zum Freund habt. Entweder er oder ich. Wählt. Der Schmerz Marthas ist anders als der Marias, wegen der unterschiedlichen Psyche und dem dadurch unterschiedlichen Verhalten der beiden. Glücklich jene, die so leben, daß sie nie bereuen müssen, jemanden betrübt zu haben, der nun tot ist und den man nicht mehr trösten kann in seinem Schmerz. Aber noch glücklicher jene, die sich nicht anklagen müssen, ihren Gott, mich, Jesus, betrübt zu haben, und sich vor der Begegnung mit mir nicht fürchten, sondern danach verlangen als nach einer das ganze Leben ungeduldig erwarteten und endlich erreichten Freude. Ich bin euer
Vater, Bruder und Freund. Warum verletzt ihr mich so oft? Wißt
ihr denn, wieviel Zeit zu leben euch noch bleibt? Zu leben,
um wiedergutzumachen? Ihr wißt es nicht.
Daher handelt recht, Stunde um Stunde, Tag
für Tag, immer. So macht ihr mich immer glücklich.
Und wenn euch Leid trifft – denn der
Schmerz ist Heiligung, ist die Myrrhe, die vor der
Verwesung der Fleischlichkeit bewahrt – werdet ihr immer die
Gewißheit haben, daß ich euch liebe, daß ich euch auch
in dieser leidvollen Stunde liebe, und ihr werdet
auch den Frieden haben, der aus meiner Liebe kommt.
Du, kleiner Johannes, weißt, daß ich auch im
größten Leid tröste. In meinem Gebet zum Vater habe ich wiederholt, was ich am Anfang gesagt habe: Es war nötig, durch ein großes Wunder die Gleichgültigkeit der Juden und der ganzen Welt zu erschüttern. Und die Auferweckung eines seit vier Tagen begrabenen Menschen, der nach einer langen, chronischen, abstoßenden und bekannten Krankheit ins Grab gelegt worden war, konnte niemanden gleichgültig lassen und mußte alle Zweifel beseitigen. Hätte ich ihn geheilt, solange er noch lebte, oder ihm den Geist sofort nach seinem Tod zurückgegeben, hätte die Voreingenommenheit der Feinde Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Wunders aufkommen lassen können. Aber der Gestank der Leiche, die durch die Verbände gesickerte Fäulnis und das lange Verweilen im Grab ließen keine Zweifel zu. Zudem wollte ich – ein Wunder innerhalb des Wunders – daß Lazarus in Gegenwart aller von den Binden befreit und gesäubert würde, damit alle sehen, daß nicht nur das Leben, sondern auch die Gesundheit in die zuvor von Geschwüren bedeckten Glieder zurückgekehrt war, die das Blut mit Keimen des Todes verseucht hatten. Wenn ich Gnade schenke, schenke ich immer mehr, als ihr erbeten habt. Ich habe am Grab des Lazarus geweint. Und diesen Tränen hat man viele Namen gegeben. Ihr müßt wissen, daß man Gnaden erhält, wenn man sein Leid mit einem festen Glauben an den Ewigen verbindet. Ich habe nicht so sehr über den Verlust des Freundes oder über den Schmerz der Schwestern geweint, als vielmehr, weil sich mir in jener Stunde lebhafter denn je drei Gedanken aufdrängten – wie ein aufgewirbelter Bodensatz der Seele – die schon immer wie drei Nägel ihre Spitzen in mein Herz gebohrt hatten. Die Erkenntnis, welches Verderben Satan über den Menschen gebracht hat durch die Verführung zum Bösen. Ein Verderben, dessen irdische Strafe der Schmerz und der Tod ist. Der leibliche Tod, Sinnbild und Metapher des geistigen Todes, in den die Schuld die Seele führt; des geistigen Todes, der sie, die Königin, deren Bestimmung es ist, im Reich des Lichtes zu leben, in die Finsternis der Hölle stürzt. Ferner die Gewißheit, daß nicht einmal dieses Wunder, sozusagen die Krönung der drei Jahre öffentlichen Wirkens, die jüdische Welt von der Wahrheit, deren Überbringer ich war, überzeugen würde. Und daß es kein Wunder gab, das die kommende Welt sicher zu Christus bekehren würde. Oh, welch ein Schmerz, so bald sterben zu müssen für so wenige! Endlich die innere Schau meines bevorstehenden Todes. Ich war Gott. Aber ich war auch Mensch. Und um Erlöser zu werden, mußte ich die Last der Sühne fühlen. Daher auch den Schrecken des Todes, eines solchen Todes. Ich war lebendig und gesund und sagte mir: "Bald werde ich tot sein und wie Lazarus in einem Grab liegen. Bald wird der furchtbarste Todeskampf mein Gefährte sein. Ich muß sterben." Die Güte Gottes erspart euch das Wissen um die Zukunft. Doch mir ist es nicht erspart geblieben. Oh, glaubt es, ihr, die ihr euch über euer Schicksal beklagt. Kein Los war trauriger als das meine, denn ich wußte immer im voraus, was mir geschehen würde, und mußte dies ertragen zusammen mit der Armut, den Entbehrungen und der Bitterkeit, die mich von der Geburt bis zum Tod begleiteten. Beklagt euch also nicht. Vertraut auf mich. Ich gebe euch meinen Frieden.» |