Leseprobe
 
Quelle: "Der Gottmensch" Band X, von Maria Valtorta (Parvis Verlag)
               © by Centro Editoriale Valtortiano srl. - www.mariavaltorta.com

Der Text der Evangelienstelle ist im Gesamttext des Kapitels harmonisch wiedergegeben.
Die entsprechenden Abschnitte sind farblich markiert: (Joh 11,45-53)


604. IN DER STADT JERUSALEM UND IM TEMPEL NACH
DER AUFERSTEHUNG DES LAZARUS

Hatte die Nachricht vom Tod des Lazarus Jerusalem und einen großen Teil Judäas bewegt und erschüttert, so hat nun die Kunde von seiner Auferstehung auch alle jene erschüttert und beeindruckt, die die Nachricht von seinem Tod gleichgültig aufgenommen haben.

Vielleicht haben die wenigen Pharisäer und Schriftgelehrten, d.h. die Synedristen, die bei der Auferstehung anwesend waren, dem Volk nichts erzählt. Ganz gewiß aber haben die Juden darüber gesprochen, und die Nachricht hat sich blitzartig verbreitet. Von Haus zu Haus, von Terrasse zu Terrasse haben es die Frauen einander mitgeteilt, während die Armen unten es unter großem Jubel über den Sieg des Christus und über Lazarus verkünden. Die Straßen sind wieder von Menschen bevölkert, die da- und dorthin eilen im Glauben, als erste die Nachricht zu überbringen, und dann enttäuscht sind, weil man sowohl in Ophel wie in Bezetha, auf dem Sion wie am Xystos schon davon erfahren hat. Man weiß es in den Synagogen und in den Geschäften, im Tempel und im Palast des Herodes. Man weiß es auch in der Burg Antonia, und von der Antonia, oder umgekehrt, gelangt die Nachricht zu den Wachtposten an den Toren. Sie erfüllt die Paläste wie die elenden Hütten: "Der Rabbi von Nazareth hat Lazarus von Bethanien auferweckt, der am Vorabend des Freitags gestorben und vor dem Beginn des Sabbats ins Grab gelegt worden war. Heute, um die sechste Stunde, ist er wieder auferstanden."

Die hebräischen Beifallskundgebungen für Christus und den Allerhöchsten mischen sich unter die verschiedenen: "Beim Jupiter! Beim Pollux! Bei Libitina!" usw. usw. der Römer.

Die einzigen, die ich nicht in der in den Straßen schwatzenden Menge sehe, sind die Synedristen. Nicht einen einzigen sehe ich, während ich Manaen und Chuza aus einem vornehmen Palast kommen sehe und Chuza sagen höre: «Großartig! Großartig! Ich habe die Nachricht sofort Johanna überbringen lassen. Er ist wahrhaftig Gott!» Und Manaen antwortet ihm: «Herodes, der von Jericho gekommen ist, um den Statthalter Pontius Pilatus zu beehren, scheint in seiner Residenz verrückt geworden zu sein. Herodias ihrerseits ist außer sich und drängt ihn, den Befehl zur Festnahme des Christus zu geben. Sie zittert wegen seiner Macht. Er aus Schuldbewußtsein. Er klappert mit den Zähnen und bittet seine Vertrautesten, ihn zu verteidigen gegen die... Geister. Er hat sich betrunken, um sich Mut zu machen, und der Wein verwirrt ihm den Kopf und läßt ihn Gespenster sehen. Er schreit, daß Christus auch den Täufer auferweckt habe, der nun ständig in seiner Nähe sei und ihm den Fluch Gottes verkünde. Ich bin aus dieser Hölle geflohen. Ich habe mich darauf beschränkt, ihm zu sagen: "Lazarus ist auferstanden durch Jesus den Nazarener. Hüte dich, ihn anzurühren, denn er ist Gott." Er soll nur recht viel Angst haben, damit er nicht ihren mörderischen Gelüsten nachgibt.»

«Ich hingegen werde zu ihm gehen müssen. Ich muß zu ihm gehen. Doch zuerst wollte ich noch bei Eliel und Elkana vorbeischauen. Sie leben zwar zurückgezogen, doch ihr Wort hat immer noch Geltung in Israel. Johanna sieht es gern, wenn ich sie ehre. Und ich...»

«Sie sind ein guter Schutz für dich, das ist wahr. Doch kannst du ihn nicht mit der Liebe des Meisters vergleichen. Sie ist der einzige wirklich wirksame Schutz...»

Chuza widerspricht ihm nicht. Er denkt nach... Ich verliere sie aus den Augen.

Von Bezetha kommt nun Joseph von Arimathäa. Er hat es sichtlich eilig, doch eine Gruppe von Bürgern, die noch unsicher ist, ob man der Nachricht Glauben schenken kann, hält ihn an und fragt ihn.

«Es ist wahr. Es ist wahr. Lazarus ist auferstanden und auch geheilt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.»

«Dann... ist er also wirklich der Messias!»

«Seine Werke sprechen dafür. Sein Leben ist vollkommen. Die Zeit ist reif. Satan bekämpft ihn. Jeder möge in seinem Herzen erwägen, wer der Nazarener ist», sagt Joseph, vorsichtig und gleichzeitig gerecht. Dann grüßt er und geht.

Sie überlegen und kommen zu dem Schluß: «Er ist wirklich der Messias.»

Eine Gruppe von Legionären unterhält sich: «Wenn möglich, gehe ich morgen nach Bethanien. Bei Venus und Mars, meinen Lieblingsgöttern! Ich kann die Erde von den glühenden Wüsten bis zu den eisigen germanischen Ländern bereisen, aber einem, der seit Tagen tot war und dann auferstanden ist, werde ich nicht mehr begegnen. Ich will sehen, wie einer aussieht, der von den Toten kommt. Der muß doch ganz schwarz sein von den Wellen der Flüsse des Jenseits...»

«Wenn er tugendhaft war, wird er bläulich sein, da er von den blauen Wellen der Elysischen Gefilde getrunken hat. Es gibt dort nicht nur den Styx...»

«Dann wird er uns sagen können, wie die Asphodelenwiesen des Hades sind... Ich werde mit dir gehen...»

«Wenn Pontius nichts dagegen hat...»

«Oh, der hat nichts dagegen. Er hat sofort einen Boten zu Claudia gesandt, damit sie kommt. Claudia liebt diese Dinge. Ich habe sie schon mehr als einmal mit ihren Freundinnen und ihrer griechischen Freigelassenen über die Seele und die Unsterblichkeit diskutieren gehört.»

«Claudia glaubt an den Nazarener. Für sie ist er größer als jeder andere Mensch.»

«Ha. Aber für Valeria ist er mehr als ein Mensch. Für sie ist er Gott. Eine Art Jupiter und Apollo soll er sein in seiner Macht und Schönheit, und weiser als Minerva. Habt ihr ihn schon gesehen? Ich bin zum erstenmal mit Pontius hierher gekommen und weiß nicht...»

«Ich glaube, du bist zur rechten Zeit gekommen, um viele Dinge zu sehen. Vor einer Weile hat Pontius mit Stentorstimme geschrien: "Hier muß alles anders werden. Sie müssen endlich begreifen, daß Rom befiehlt und sie alle nur Sklaven sind. Und je höher sie stehen, desto mehr müssen sie gehorchen, weil sie gefährlicher sind." Mir scheint, daß es wegen des Schreibtäfelchens war, das ihm der Diener des Annas gebracht hatte...»

«Ja, er will nicht auf sie hören... Und er wechselt uns regelmäßig aus, denn er will keine Freundschaften zwischen uns und ihnen.»

«Zwischen uns und ihnen? Ha, ha, ha! Mit diesen Höckernasen? Pontius bekommt wohl das viele Schweinefleisch nicht, das er ißt. Wenn überhaupt, dann die Freundschaft mit einer Dame, die den Kuß rasierter Gesichter nicht verachtet...» lacht einer spitzbübisch.

«Tatsache ist, daß er nach den Unruhen beim Laubhüttenfest den Austausch aller Soldaten verlangt und genehmigt erhalten hat und daß wir nun dran sind und gehen müssen...»

«Das ist wahr. Von Caesarea wurde schon die Ankunft der Galeere gemeldet, die Longinus und seine Centurie bringt. Neue Offiziere, neue Soldaten... und alles wegen dieser Reptilien im Tempel. Mir hat es hier gut gefallen.»

«Mir ist es in Brundisium besser gegangen... aber ich werde mich daran gewöhnen», sagt einer, der erst vor kurzem in Palästina angekommen ist.

Sie entfernen sich.

Tempelwächter kommen nun vorbei mit Wachstäfelchen, und die Leute beobachten sie und sagen: «Das Synedrium hat eine dringende Versammlung einberufen. Was haben sie im Sinn?»

Einer antwortet: «Laßt uns zum Tempel hinaufgehen und sehen...» Sie schlagen den Weg ein, der zum Berg Moriah führt.

Die Sonne versinkt hinter den Häusern des Sion und den westlichen Bergen. Der Abend bricht herein, und bald sind die Straßen von Neugierigen leer. Die, die zum Tempel hinaufgegangen sind, kommen unruhig zurück, denn man hat sie sogar von den Toren verjagt, wo sie sich aufgestellt hatten, um die Synedristen vorbeigehen zu sehen.

Das Innere des Tempels ist menschenleer und verlassen. Im Mondlicht erscheint alles riesengroß. Die Synedristen versammeln sich allmählich im Saal des Hohen Rats. Alle sind sie da, wie bei der Verurteilung Jesu, es fehlen nur die, die damals als Schreiber tätig waren. Ich sehe nur Synedristen, teils an ihren üblichen Plätzen, teils in Gruppen an den Türen.

Kaiphas kommt herein, von Gesicht und Gestalt einer aufgeblasenen giftigen Kröte ähnlich, und begibt sich an seinen Platz.

Sie beginnen sofort über die Vorkommnisse zu diskutieren, und das Ganze erregt sie derart, daß die Sitzung bald sehr bewegt ist. Schließlich verlassen sie ihre Sitze und gehen gestikulierend und laut redend auf den freien Platz im Raum hinunter. Einige fordern zu Ruhe und Überlegung auf, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Andere widersprechen: «Aber habt ihr nicht jene gehört, die nach der neunten Stunde gekommen sind? Wenn wir die einflußreichsten Juden verlieren, was nützt es uns dann, Anschuldigungen zu sammeln? Je länger er am Leben bleibt, desto weniger wird man unseren Beschuldigungen glauben.»

«Aber diese Tatsache können wir nicht leugnen. Wir können nicht zu der Volksmenge, die dort gewesen ist, sagen: "Ihr habt nicht recht gesehen. Es war alles Einbildung. Ihr wart betrunken." Der Tote war wirklich tot, verwest, aufgelöst. Er lag in einem verschlossenen Grab, und das Grab war gut zugemauert. Der Tote lag seit einigen Tagen unter Binden und Balsam. Er war eingewickelt, gebunden. Und doch hat er seinen Platz verlassen und ist allein, ohne gehen zu können, an die Öffnung des Grabes gekommen. Und als er befreit wurde, da war sein Körper nicht mehr tot. Er konnte atmen und die Fäulnis war verschwunden, während er als Lebender voller Geschwüre und als Toter schon ganz verwest war.»

«Habt ihr die einflußreichsten Juden gehört, die wir gedrängt hatten hinzugehen, um sie ganz für uns zu gewinnen? Sie sind gekommen, um uns zu sagen: "Für uns ist er der Messias." Fast alle sind sie gekommen! Und das Volk erst... !»

«Und diese verfluchten, abergläubischen Römer! Was sollen wir mit ihnen anfangen? Für sie ist er Jupiter Maximus. Und wenn sie bei dieser Ansicht bleiben! Sie haben ihre Geschichten unter uns bekannt gemacht, und diese sind uns zum Fluch geworden. Fluch über jene, die den Hellenismus bei uns einführen wollen und uns aus Schmeichelei durch Bräuche entweiht haben, die nicht die unseren sind! Aber dies dient auch dazu, uns die Augen zu öffnen. Wir wissen nun, daß der Römer schnell niederreißt, aber auch rasch wieder aufbaut durch Verschwörungen und Staatsstreiche. Wenn nun einer von diesen Verrückten hier sich für den Nazarener begeistert und ihn zum Caesar ausruft... und damit zum Gott macht, wer kann ihn dann noch anrühren?»

«Aber nein! Wer sollte dies denn tun? Sie lachen über ihn und uns. Wie unglaublich seine Werke auch sein mögen, für sie ist er immer ein "Hebräer". Also ein Minderwertiger. Die Angst läßt dich töricht werden, o Sohn des Annas!»

«Die Angst! Hast du gehört, wie Pontius auf die Einladung meines Vaters geantwortet hat? Er ist erschüttert, sage ich dir. Er ist beeindruckt von diesem letzten Ereignis und fürchtet den Nazarener. Wir sind zu bedauern! Dieser Mensch ist zu unserem Verderben gekommen!»

«Wären wir wenigstens nicht dorthin gegangen und hätten wir nur nicht den einflußreichsten Juden fast befohlen, auch hinzugehen! Wenn Lazarus wenigstens ohne Zeugen auferstanden wäre.»

«Nun und? Was hätte dies geändert? Wir hätten ihn doch nicht verschwinden lassen können, um glauben zu machen, daß er nach wie vor tot ist.»

«Das nicht. Aber wir hätten sagen können, daß es sich um einen Scheintod gehandelt hat. Bezahlte Zeugen für falsche Aussagen findet man immer.»

«Warum so viel Aufregung? Ich sehe keinen Grund dazu! Hat er etwa gegen das Synedrium und den Hohenpriester aufgewiegelt? Nein. Er hat sich darauf beschränkt, ein Wunder zu wirken.»

«Er hat sich darauf beschränkt?! Bist du denn töricht oder hast du dich ihm verkauft, Eleazar? Hat er nicht gegen das Synedrium und den Hohenpriester gehetzt? Auf was wartest du noch? Die Leute...»

«Die Leute können sagen, was sie wollen, aber die Dinge stehen so, wie Eleazar gesagt hat. Der Nazarener hat nur ein Wunder gewirkt.»

«Noch einer, der ihn verteidigt! Du bist kein Gerechter mehr, Nikodemus! Dies ist ein Schlag gegen uns. Gegen uns, verstehst du? Nichts mehr wird das Volk überzeugen können. Oh, wir Unglücklichen! Ich bin heute von einigen Juden verspottet worden. Ich und verspottet! Ich!»

«Schweige, Doras! Du bist nur ein Mensch. Aber die Idee, unsere innersten Überzeugungen sind getroffen worden. Unsere Gesetze! Unsere Vorrechte!»

«Du hast recht, Simon. Wir müssen sie verteidigen.»

«Aber wie?»

«Indem wir seine Ideen bekämpfen und zunichte machen!»

«Das ist leicht gesagt, Sadok. Aber wie willst du sie vernichten, wenn du nicht einmal fähig bist, eine tote Fliege wieder lebendig zu machen? Hier braucht es ein größeres Wunder als das seine. Aber keiner von uns kann es wirken, weil...» Der, der gerade spricht, weiß nicht warum.

Joseph von Arimathäa beendet seinen Satz: «Weil wir Menschen sind, nur Menschen.»

Alle stürzen sich auf ihn und fragen: «Und er, wer ist er denn?»

Joseph antwortet bestimmt: «Er ist Gott. Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte...»

«Aber du hast keine Zweifel gehabt. Wir wissen es, Joseph. Wir wissen es. Sage uns nur ganz offen, daß du ihn liebst!»

«Es ist nichts Schlimmes, wenn Joseph ihn liebt. Ich selbst anerkenne ihn als den größten Rabbi Israels.»

«Du? Du, Gamaliel, sagst das?»

«Ich sage es. Und es ehrt mich, von ihm... entthront worden zu sein. Denn bis jetzt habe ich die Tradition der großen Rabbis aufrechterhalten, deren letzter Hillel gewesen ist. Doch wußte ich nicht, wer nach mir die Weisheit der Jahrhunderte hätte fortsetzen können. Nun kann ich beruhigt gehen, denn ich weiß, daß die Weisheit nicht sterben wird; daß sie vielmehr zunehmen wird, vermehrt durch die seine, in der zweifellos der Geist Gottes gegenwärtig ist.»

«Was sagst du da, Gamaliel?»

«Die Wahrheit. Selbst wenn wir die Augen verschließen, können wir nicht verkennen, was wir in Wirklichkeit sind. Wir sind nicht mehr weise, denn der Anfang aller Weisheit ist die Furcht des Herrn. Und wir sind Sünder ohne Gottesfurcht. Wenn wir diese Furcht hätten, würden wir nicht den Gerechten unterdrücken und mit törichter Gier nach den Reichtümern der Welt verlangen. Gott gibt, und Gott nimmt, je nach den Verdiensten und den bösen Werken. Und wenn Gott uns jetzt nimmt, was er uns gegeben hatte, um es anderen zu geben, dann sei er gepriesen. Denn heilig ist der Herr, und heilig sind alle seine Werke.»

«Aber wir haben doch von den Wundern gesprochen und wollten sagen, daß keiner von uns sie wirken kann, weil Satan nicht mit uns ist.»

«Nein, weit Gott nicht mit uns ist. Moses teilte die Wasser und ließ eine Quelle aus dem Fels entspringen. Josua ließ die Sonne stillstehen. Elias erweckte den Knaben und ließ Regen fallen. Aber mit ihnen war Gott. Ich möchte euch daran erinnern, daß es sechs Dinge gibt, die Gott verhaßt sind, und das siebte ist seinem Herzen ein Abscheu: stolze Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen, ein Herz, das Böses sinnt, Füße, die zum Bösen eilen, der falsche Zeuge und jener, der unter den Brüdern Unfrieden stiftet. Wir tun alle diese Dinge. Wir, sage ich. Aber nur ihr allein tut sie. Denn ich enthalte mich, "Hosanna" oder "Anathema" zu rufen. Ich warte ab.»

«Das Zeichen! Ja, du wartest auf das Zeichen! Aber welches Zeichen erwartest du von einem armen Irren, wenn wir ihm wirklich alles verzeihen wollen?»

Gamaliel erhebt die Hände, und mit vor sich ausgestreckten Armen, geschlossenen Augen, leicht geneigtem Haupt und ehrfurchtgebietend wie nie zuvor spricht er langsam mit einer Stimme, die von sehr weit herzukommen scheint: «Ich habe den Herrn inständig gebeten, mir die Wahrheit kundzutun, und er hat mir die Worte Jesu, des Sohnes des Sirach, erklärt: "Der Schöpfer aller Dinge sprach zu mir und gab mir seinen Befehl, und der mich schuf, ruhte in meinem Zelt und sagte zu mir: 'In Jakob sollst du wohnen. In Israel soll sein dein Erbbesitz. Fasse Wurzel unter meinen Auserwählten...' " Und ferner hat er mir diese Worte erklärt, und ich habe sie verstanden: "Kommt her zu mir, die ihr mein begehrt, und an meinen Früchten sättigt euch, denn mein Geist ist süßer als Honig und mein Erbe süßer als Honigseim. Mein Andenken wird von Geschlecht zu Geschlecht durch die Jahrhunderte währen. Wer mich verkostet, der wird nach mir hungern, und wer mich trinkt, der wird nach mir dürsten. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden werden, und wer sich um mich bemüht, der sündigt nicht. Wer von mir spricht, wird das ewige Leben haben." Und Licht Gottes erleuchtete meinen Geist, während meine Augen diese Worte lasen: "Dies alles enthält das Buch des Lebens, das Testament des Allerhöchsten, die Lehre der Wahrheit... Gott versprach David, aus seinem Geschlecht den mächtigen König hervorgehen zu lassen, der auf ewig auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird. Er wird von Weisheit überfließen, wie der Pischon und der Tigris in den Tagen der Erstlinge, wie der Euphrat strömt er von Bildung über und schwillt an wie der Jordan zur Zeit der Ernte. Er wird die Weisheit wie Licht ausstrahlen... Er hat sie als erster vollkommen erkannt." Das hat mich Gott begreifen lassen! Doch wehe, was sage ich! Die Weisheit, die unter uns weilt, ist zu groß, als daß man sie verstehen könnte, als daß man ihre Gedanken fassen könnte, die gewaltiger sind als die Meere, und ihren Rat, der tiefer ist als der große Abgrund. Und wir hören ihn rufen: "Ich bin wie ein wasserreicher Kanal aus dem Paradies geflutet und habe gesagt: 'Ich will meinen Garten bewässern.' Da ward der Graben mir zum Fluß und der Fluß zum Meer. So will ich weiter meine Lehre leuchten lassen gleich dem Frühlicht, und will sie strahlen lassen bis in die Fernen. In die tiefsten Tiefen werde ich eindringen, meinen Blick auf die Schlafenden richten und jene, die auf den Herrn hoffen, erleuchten. Noch weiter will ich Belehrung wie Prophetenbotschaft ausschütten und sie denen hinterlassen, die die Weisheit suchen. Und ich werde nicht aufhören, sie zu verkünden bis zum heiligen Jahrhundert. So habe ich nicht für mich allein mich gemüht, sondern für alle, die die Wahrheit suchen." Dies hat mich Jahwe, der Allerhöchste, lesen lassen.» Gamaliel läßt die Arme sinken und erhebt das Haupt.

«Dann ist er also für dich der Messias?! Sage es!»

«Es ist nicht der Messias.»

«Er ist es nicht? Was ist er dann für dich? Ein Dämon ist er nicht ein Engel auch nicht... der Messias auch nicht...»

«Er ist der, der ist.»

«Du phantasierst! Gott ist er? Gott ist dieser Verrückte für dich?»

«Er ist der, der ist. Gott weiß, wer er ist. Wir sehen seine Werke. Gott sieht auch seine Gedanken. Aber er ist nicht der Messias, denn für uns bedeutet Messias König. Er ist nicht und wird auch nicht König sein. Aber er ist heilig. Und seine Werke sind heilig. Und wir können nicht unsere Hand gegen den Unschuldigen erheben, ohne eine Sünde zu begehen. Ich werde der Sünde nicht zustimmen.»

«Aber mit deinen Worten hast du doch fast gesagt, daß er der Erwartete ist.»

«Ich habe es gesagt. Solange das Licht des Allerhöchsten leuchtete, sah ich ihn als den Erwarteten. Dann... als mich die Hand des Herrn nicht mehr hoch oben in seinem Licht hielt, wurde ich wieder Mensch, der Mensch Israels, und die Worte waren nur noch Worte, denen der Mensch Israels, ich, ihr, die vor uns und – Gott möge es verhüten – die nach uns, ihren eigenen, unseren Sinn geben, und nicht den Sinn, den sie im ewigen Gedanken haben, der sie seinem Diener diktiert hat.»

«Wir reden, weichen vom Thema ab und verlieren Zeit. Und das Volk empört sich unterdessen», krächzt Chananias.

«Du hast ganz recht! Wir müssen etwas beschließen und handeln, um uns zu retten und zu siegen.»

«Ihr habt gesagt, daß Pilatus uns nicht anhören wollte, als wir ihn um seine Hilfe gegen den Nazarener gebeten haben. Aber wenn wir ihn wissen ließen... Ihr habt gerade gesagt, wenn sich die Soldaten für ihn begeistern, könnten sie ihn zum Caesar ausrufen... Hm, eine gute Idee. Laßt uns gehen und dem Prokonsul diese Gefahr vortragen. Wir werden dann als treue Diener Roms ausgezeichnet werden, und... wenn er gegen ihn einschreitet, sind wir den Rabbi los. Gehen wir! Gehen wir! Du, Eleazar des Annas, der du mehr als alle anderen mit ihm befreundet bist, führe uns an», lacht Elchias falsch wie eine Schlange.

Zuerst zögern sie etwas, doch dann geht die Gruppe der Fanatischsten hinaus, um sich zur Burg Antonia zu begeben. Kaiphas bleibt bei den übrigen zurück.

«Um diese Zeit! Man wird sie nicht empfangen», bemerkt jemand.

«Im Gegenteil! Das ist die beste Zeit. Pontius ist immer guter Laune, wenn er gegessen und getrunken hat, wie nur ein Heide essen und trinken kann...»

Ich lasse sie bei ihren Diskussionen zurück und sehe die Szene in der Antonia.

Die kurze Strecke ist rasch und ohne Schwierigkeiten zurückgelegt, denn das Mondlicht wetteifert mit dem roten Licht der Lampen am Eingang zum Palast des Prätoriums.

Eleazar gelingt es, sich bei Pilatus anmelden zu lassen, und sie werden in einen großen, leeren, vollkommen leeren Saal geführt. Nur ein schwerer Sessel mit niedriger Lehne steht darin, der mit einem purpurroten Tuch bedeckt ist, das sich lebhaft von dem strahlenden Weiß des Saales abhebt. Die Synedristen stehen in einer Gruppe etwas ängstlich und fröstelnd auf dem herrlichen Marmorboden. Niemand kommt. Absolute Stille, die nur ab und zu von ferner Musik unterbrochen wird, herrscht im Saal.

«Pilatus ist bei Tisch. Gewiß mit Freunden. Diese Musik wird im Tricinium gespielt. Es wird Tänze zu Ehren der Gäste geben...» sagt Eleazar des Annas.

«Verkommenes Volk! Morgen werde ich mich reinigen. Die Unzucht dringt durch diese Wände...» sagt Elchias mit Abscheu.

«Warum bist du dann gekommen? Du hast doch diesen Vorschlag gemacht!» entgegnet Eleazar.

«Zur Ehre Gottes und für das Wohl des Vaterlandes bin ich zu jedem Opfer bereit. Und dieses ist groß! Ich hatte mich eben gereinigt, weil ich mich Lazarus genähert hatte... und nun... Ein schrecklicher Tag heute... !»

Pilatus kommt nicht. Die Zeit vergeht. Eleazar, der sich auskennt, geht zu den Türen. Sie sind alle verschlossen. Die Angst übermannt die Anwesenden. Schreckliche Geschichten tauchen in ihrer Erinnerung auf, und alle bedauern es, gekommen zu sein. Sie fühlen sich schon verloren.

Endlich! An der ihnen gegenüberliegenden Seite – denn sie sind nahe der Tür stehengeblieben, durch die sie hereingekommen sind – also dort, wo der einzige Sessel steht, öffnet sich eine Tür und Pilatus kommt herein in einem Gewand, das weiß ist wie der Saal. Dabei unterhält er sich mit den Gästen und lacht. Dann wendet er sich an den Sklaven, der den Vorhang an der Tür hält, und befiehlt ihm, Essenzen in ein Kohlebecken zu schütten und dann parfümiertes Wasser zum Händewaschen zu bringen. Auch ein Sklave mit Spiegel und Kämmen soll kommen. Um die Hebräer kümmert er sich nicht, so als ob sie nicht existierten. Diese ärgern sich, wagen jedoch nicht, sich bemerkbar zu machen.

Drüben bringt man inzwischen Kohlebecken, streut Harze auf die Glut und gießt duftendes Wasser über die Hände der Römer. Ein Sklave ordnet mit erfahrenen Händen die Haare, entsprechend der Mode der reichen Römer. Und die Hebräer ärgern sich...

Die Römer lachen, machen Scherze und sehen hin und wieder zu der kleinen Gruppe hinüber, die dort im Hintergrund wartet. Einer spricht mit Pilatus, der sie noch nicht einmal angesehen hat. Doch Pilatus zuckt nur die Achseln, macht eine gelangweilte Geste und klatscht in die Hände, um einen Sklaven herbeizurufen, dem er mit lauter Stimme befiehlt, Süßigkeiten zu bringen und die Tänzerinnen hereinzuschicken. Die Hebräer beben vor Zorn und Empörung. Man stelle sich vor, ein Elchias ist gezwungen, Tänzerinnen zu sehen! Sein Gesicht ist ein Gedicht von Leiden und Haß.

Nun kommen die Sklaven mit Süßigkeiten in kostbaren Schalen, und hinter ihnen die blumenbekränzten Tänzerinnen, die kaum von den hauchfeinen schleierartigen Stoffen bedeckt sind. Die weißen Körper schimmern durch die feinen rosa und hellblauen Gewänder, wenn sie an den Kohlebecken und den vielen weiter hinten aufgestellten Lampen vorüberkommen. Die Römer bewundern die Anmut der Körper und der Bewegungen, und Pilatus verlangt die Wiederholung eines Tanzes, der ihm besonders gefallen hat. Elchias und sein Anhang wenden sich voll Verachtung zur Wand, um nicht sehen zu müssen, wie die Tänzerinnen gleich Schmetterlingen in ihren wehenden, in Unordnung geratenen Gewändern vorbeihuschen.

Nach dem kurzen Tanz entläßt Pilatus die Tänzerinnen, wobei er jeder die mit Süßigkeiten gefüllte Schale reicht, in die er noch achtlos ein Armband wirft. Endlich läßt er sich dazu herab, sich den Hebräern zuzuwenden, sie zu betrachten, und sagt zu seinen Freunden: «Und nun muß ich vom Traum zur Wirklichkeit zurückkehren... Von der Poesie zur... Hypokrisie... Von den anmutigen zu den belastenden Dingen des Lebens. Es ist ein Elend, Prokonsul zu sein... ! Salve, meine Freunde. Habt Mitleid mit mir.»

Pilatus ist allein geblieben und nähert sich nun ganz langsam den Hebräern. Er setzt sich, betrachtet seine wohlgepflegten Hände und entdeckt etwas, was nicht in Ordnung ist unter einem Fingernagel. Er ist ganz damit beschäftigt, kümmert sich sofort darum und zieht ein dünnes goldenes Stäbchen aus dem Gewand, mit dem er das große Unglück eines unvollkommenen Fingernagels beseitigt...

Dann wendet er in seiner Güte langsam das Haupt. Er grinst, als er die Hebräer noch immer in ihrer gebeugten servilen Haltung sieht, und sagt: «Ihr da! Kommt her! Faßt euch kurz! Ich kann meine Zeit nicht mit unnützen Dingen vergeuden.»

Die Hebräer nähern sich, noch immer in serviler Haltung, bis ein: «Halt, kommt mir nicht zu nahe!» sie am Boden festnagelt. «Sprecht! Und steht gerade, denn nur Tiere stehen auf allen Vieren», und er lacht.

Die Hebräer richten sich bei diesem Spott auf und stehen kerzengerade.

«Nun? Sprecht! Ihr wolltet unbedingt kommen. Jetzt, da ihr hier seid, redet.»

«Wir wollten dir sagen... Wir haben erfahren... Wir sind treue Diener Roms...»

«Ha, ha, ha ! Treue Diener Roms! Ich werde es den göttlichen Caesar wissen lassen, und er wird glücklich darüber sein! Wie glücklich er sein wird! Redet, ihr Narren. Aber rasch!»

Die Synedristen zittern vor Zorn, erwidern aber nichts. Elchias ergreift nun im Namen aller das Wort: «Du mußt wissen, o Pontius, daß heute in Bethanien ein Mensch vom Tod erweckt worden ist...»

«Ich weiß es! Seid ihr gekommen, um mir dies zu sagen? Ich weiß es schon seit vielen Stunden. Glücklich jener, der schon weiß, was der Tod ist und wie die andere Welt aussieht! Und was kann ich daran ändern, daß Lazarus des Theophilus vom Tod auferstanden ist? Hat er mir vielleicht eine Botschaft aus dem Hades mitgebracht?» spottet Pilatus.

«Nein. Aber seine Auferstehung ist eine Gefahr...»

«Für ihn? Gewiß! Er befindet sich nun in der Gefahr, noch einmal sterben zu müssen. Eine nicht gerade angenehme Beschäftigung. Nun, was kann ich da machen? Bin ich denn Jupiter?»

«Keine Gefahr für Lazarus... sondern für den Caesar.»

«Für?... Domine! Vielleicht habe ich getrunken! Habt ihr gesagt: für den Caesar? Wie könnte Lazarus dem Caesar schaden? Vielleicht fürchtet ihr, daß der Gestank des Grabes die Luft verpesten könnte, die der Kaiser atmet? Beruhigt euch. Er ist zu weit weg!»

«Das nicht. Aber durch seine Auferstehung kann Lazarus den Kaiser entthronen.»

«Entthronen? Ha, ha, ha! Das ist das Tollste, was ich je gehört habe! Dann bin also nicht ich betrunken, sondern ihr seid es. Vielleicht hat der Schrecken euch um den Verstand gebracht. Jemanden auferstehen zu sehen... Ich glaube schon, daß so etwas verwirren kann. Geht, geht zu Bett. Angenehme Ruhe. Nehmt ein heißes Bad. Sehr heiß! Das ist gut gegen Fieberwahn.»

«Wir sprechen nicht im Wahn, Pontius. Wir möchten dir nur sagen, daß du schlimmen Zeiten entgegengehst, wenn du nicht vorsorgst. Ganz gewiß wirst du bestraft, wenn dich der Usurpator nicht gar noch tötet. In Kürze wird der Nazarener zum König ausgerufen werden, zum König der Welt! Verstehst du? Deine eigenen Legionäre werden es tun. Sie sind vom Nazarener verführt, und das heutige Ereignis hat sie begeistert. Was bist du für ein Diener Roms, wenn du dich nicht um den Frieden Roms kümmerst? Willst du erleben, wie das Imperium durch deine Untätigkeit erschüttert und geteilt wird? Willst du erleben, wie Rom besiegt, seine Insignien in den Schmutz getreten, der Kaiser getötet und alles zerstört wird?»

«Schluß! Jetzt rede ich. Und ich sage euch, ihr seid Idioten! Noch schlimmer, ihr seid Lügner. Bösewichter seid ihr! Ihr würdet den Tod verdienen. Hinaus mit euch, ihr infamen Diener eurer eigenen Interessen, eures Hasses, eurer Niederträchtigkeit! Knechte seid ihr. Ich nicht. Ich bin römischer Bürger, und römische Bürger sind niemandes Knechte. Ich bin kaiserlicher Beamter und ich arbeite für das Wohl des Vaterlandes. Ihr... ihr seid die Untertanen. Ihr... ihr seid die Unterworfenen. Ihr seid Galeerensträflinge, die an ihre Bänke gekettet sind, und euer Ärger ist nutzlos... Die Peitsche des Aufsehers droht euch. Der Nazarener!... Ihr hättet gerne, daß ich den Nazarener töte? Ihr möchtet, daß ich ihn ins Gefängnis werfe? Beim Jupiter! Wenn ich zum Wohl Roms und des göttlichen Kaisers alle gefährlichen Subjekte einsperren oder töten müßte, hier, wo ich Statthalter bin, dann dürfte ich nur den Nazarener und seine Gefährten, und nur diese, frei und am Leben lassen. Geht. Verschwindet und kommt mir nicht mehr unter die Augen. Ihr Aufrührer! Ihr Aufwiegler! Ihr Diebe und Hehler! Keine einzige eurer Machenschaften ist mir verborgen. Das sollt ihr wissen. Und ihr sollt auch wissen, daß frische Waffen und neue Legionäre schon hinter eure Schliche gekommen sind und eure Werkzeuge kennen. Ihr schreit wegen der römischen Steuer? Aber wie teuer sind euch Melchias von Galaad, Jonas von Scythopolis, Philippus von Socho, Johannes von Bethaven, Joseph von Ramot und all die anderen, die wir bald erwischen werden, zu stehen gekommen? Geht nur nicht zu den Höhlen im Tal, denn dort sind mehr Soldaten als Steine, und das Gesetz und die Galeeren sind für alle gleich. Für alle! Versteht ihr? Für alle. Ich hoffe, den Tag zu erleben, da ihr alle in Ketten liegen werdet, Sklaven unter Sklaven, unter dem Stiefel Roms. Hinaus! Geht und berichtet euren Gesinnungsgenossen. Auch du, Eleazar des Annas, den ich nicht mehr in meinem Haus zu sehen wünsche. Berichtet, daß die Zeit der Nachsicht zu Ende ist und daß ich der Prokonsul bin und ihr die Untertanen seid. Die Untertanen! Und ich befehle im Namen Roms. Hinaus! Ihr nächtlichen Schlangen! Vampire! Und der Nazarener will euch erlösen? Wenn er Gott wäre, müßte er euch mit einem Blitz erschlagen! Dann wäre die Welt vom größten Schandfleck befreit. Hinaus! Und wagt es nicht, Verschwörungen anzuzetteln, sonst lernt ihr Schwert und Geißel kennen.»

Pilatus steht auf, geht weg und schlägt die Tür vor den erschrockenen Synedristen zu. Sie haben nicht einmal die Zeit, zu sich zu kommen, denn ein bewaffneter Trupp kommt herein und jagt sie wie Hunde aus dem Saal und aus dem Palast.

Sie kehren in den Saal des Synedriums zurück und berichten. Die Erregung ist auf dem Höhepunkt. Die Nachricht von der Gefangennahme vieler Räuber und dem Gefecht in den Höhlen beunruhigt die Zurückgebliebenen aufs äußerste. Denn viele sind, des Wartens müde, schon nach Hause gegangen.

«Und doch können wir ihn nicht am Leben lassen!» schreien einige Priester.

«Wir können ihn nicht weitermachen lassen. Er handelt, und wir tun nichts und verlieren täglich mehr an Einfluß. Wenn wir ihn weiter in Freiheit lassen, wird er fortfahren, Wunder zu wirken, und alle werden an ihn glauben. Die Römer werden am Ende noch gegen uns einschreiten und uns ganz vernichten. Pontius sagt es... Aber wenn die Volksmassen ihn zum König ausrufen würden, oh, dann hätte Pontius die Pflicht, uns alle zu bestrafen. Wir dürfen das nicht zulassen», schreit Sadok.

«Nun gut, aber wie? Der römische Rechtsweg hat nicht zum Ziel geführt. Pontius ist des Nazareners sicher. Unser Rechtsweg... ist unmöglich gemacht. Jesus sündigt nicht...» bemerkt einer.

«Man erfindet eine Schuld, wenn keine Schuld vorliegt», rät Kaiphas.

«Aber das wäre Sünde! Meineid! Einen Unschuldigen verurteilen lassen! Das geht zu weit!» sagen die meisten mit Abscheu. «Es ist ein Verbrechen, denn es wäre sein Tod!»

«Nun und? Erschreckt euch dies? Ihr seid töricht und versteht nichts. Nach dem, was vorgefallen ist, muß Jesus sterben. Begreift ihr denn nicht, daß es besser für uns ist, wenn ein Mensch stirbt, bevor viele Menschen sterben. Daher muß er sterben, damit sein Volk gerettet wird und nicht unsere ganze Nation zugrundegeht. Übrigens... sagt er ja selbst, daß er der Erlöser ist. Also soll er sich opfern, um alle anderen zu retten», sagt Kaiphas, abstoßend in seinem kalten, verschlagenen Haß.

«Aber Kaiphas! Überlege! Er...»

«Ich habe gesprochen. Der Geist des Herrn ruht auf mir, dem Hohenpriester! Wehe denen, die den Hohenpriester Israels nicht achten! Die Blitze Gottes sollen sie treffen! Genug des Wartens! Genug der Ängste! Ich befehle und ordne an, daß jeder, der erfährt, wo sich der Nazarener aufhält, es uns sofort mitteilt. Verflucht sei, wer meinem Wort nicht gehorcht.»

«Aber Annas...» entgegnen einige.

«Annas hat zu mir gesagt: "Alles, was du tust, wird heilig sein." Wir wollen die Sitzung aufheben. Am Freitag zwischen der dritten und der sechsten Stunde treffen wir uns alle hier zur Beratung. Alle, habe ich gesagt! Laßt es die Abwesenden wissen. Ruft auch alle Oberhäupter der Familien und der Stände, alle Vornehmen Israels. Das Synedrium hat gesprochen. Geht.»

Und er zieht sich als erster dorthin zurück, von wo er gekommen ist, während die anderen nach allen Seiten auseinandergehen. Leise redend verlassen sie den Tempel und gehen nach Hause.